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Danach ist man überrascht durch die Charakteristik dieser Zusätze auf S. 126, wonach absolut keiner von ihnen selbständig ist, vielmehr alle das Vergangene und Nachfolgende voraussetzen (!), eine Charakteristik, die freilich alsbald reduziert wird durch die wahrlich unerwartete Bemerkung: 'fast keiner kann ferner herausgenommen werden'. Finde sich hier zurecht, wer kann.

Die Art, wie Niese sich die Gedichte entstanden denkt, hat etwas so Mechanisches, dafs eigentlich das Gegenteil von dichterischem Schaffen dabei herauskommt. Als das, was er den ältesten Stamm der Ilias und der Odyssee nennt, bleibt ein so winziger Rest übrig, dafs man nicht recht begreift, wie ein Dichter sich angeregt finden konnte, statt ein für sich bestehendes Werk zu schaffen, zu einem dieser beiden kleinen Stücke etwas hinzu zu dichten und mit seiner Kunst in dieses ganz und gar aufzugehen. Der Prozefs, den N. sich denkt, hat doch einmal angefangen. Soll man nun seit dem Bestehen der Urilias oder Urodyssee gar nicht den Versuch gemacht haben, neben diesen beiden Erzeugnissen etwas Selbständiges zu schaffen, so müssen dieselben eine ganz unwiderstehliche Autorität besessen haben, dafs jeder dichtende Kopf ohne jedes Bedenken seine eigene Inferiorität ihnen gegenüber zugab. Das kommt mir aber, gelinde gesagt, in hohem Grade unwahrscheinlich vor. Ich glaube erstens nicht, dafs jene beiden angeblichen Kerne, die man überhaupt doch erst in greifbarer Gestalt vor sich haben müfste, um sie bewundern zu können, an sich geeignet waren eine solche Autorität zu besitzen; und zweitens mag man noch so hoch von ihnen denken, Poeten pflegen nicht solche Autoritätsmenschen zu sein, um dem Werke eines Anderen gegenüber, und wäre es das gröfste, auf jede eigene Existenz zu verzichten. Man mufs doch wahrlich eine recht armselige Vorstellung von der Originalität epischer Dichter haben, wenn man ihr Schaffen auf das Bestreben zurückführt, zu einem vorhandenen Werke, sei es von ganz exemplarischer Gröfse, Zusätze zu machen auf Veranlassung einzelner Stellen dieses Werkes, welche dazu einzuladen scheinen. Denn das ist es doch, was Niese vorträgt. Unter dem, was er auf diese Weise entstanden sein läfst, befindet sich eine Reihe der schönsten Teile der Gedichte, von denen ich mich auf keine Weise überreden kaun, ihre Verfasser hätten die Resignation geübt, zu einem fremden Werke nur etwas hinzufügen zu wollen. Die Sache hat aber noch eine andere Seite. Niese denkt sich das Hinzudichten, das Ausarbeiten und Fortsetzen als eine Art legitime, allgemein anerkannte Aufgabe der epischen Poesie, und es werden gute und schlechte Zusätze pêle-mêle als willkommener Zuwachs angenommen. Auf der einen Seite haben die Urepen eine ganz unglaubliche Autorität besessen, dafs nichts Selbständiges neben ihnen aufkommen konnte; auf der andern schrumpft dieselbe in bedenklicher Weise zusammen, und wir sehen vielmehr ein frevelhaftes Beginnen einer ganzen Nation, die die Verunstaltung eines kostbaren Schatzes zu einem Privilegium so und so vieler Poetaster macht. Ein solcher 'Homeride' zu sein würde für Goethe wenig Verlockendes gehabt haben. Mit welcher Vorsicht man das Buch überhaupt gebrauchen mufs, habe ich u. a. aus folgender Reihe von auserlesenen Sonderbarkeiten im Einzelnen ersehen.

S. 10 wird über Phemios gesagt: dafs er лagà μvηorñgow ȧvárzy singe, sei von der Notwendigkeit des Lebensunterhaltes zu verstehen, den er durch das Singen erwerbe; von einem durch die Freier auf ihn ausgeübten Zwange sei keine Rede. Aber Phemios sagt doch selbst zu Odysseus χ 350: καί κεν Τηλέμαχος τάδε γ ̓ εἴποι, σὸς φίλος υἱός, ͵ ὡς ἐγὼ οὔ τι ἑκὼν ἐς σὸν δόμον οὐδὲ χατίζων | πωλεύμην μνηστῆσιν ἀεισόμενος μετὰ δαῖτας, ͵ ἀλλὰ πολὺ πλέονες και κρείσσονες ἤγον ἀνάγκῃ.

S. 18. Nicht als Patroklos bei Achill 'ankommt', schildert er weinend die Not der Achäer, sondern das ist gerade das Auffällige, dafs nach der Botengang des Patroklos völlig ignoriert wird. Dafs Achill ihn fortgeschickt habe und dafs er zu diesem zurückgekehrt sei, weifs der Verfasser von II nicht. Nach dem hier vorliegenden Zusammenhange ist nicht anzunehmen, dafs seine Mitteilungen dem Achill etwas Neues sind. Achill weifs so gut wie Patroklos Bescheid, und dieser schildert die Not nur zur Motivierung seiner Bitte.

S. 43 eine der seltsamsten Anmerkungen. Vielleicht darf hier bemerkt werden, dafs Od. 187, in einem der ältesten Theile der Odyssee, Odysseus und Idomeneus direct nach Troia gehen und nicht erst nach Aulis.' Als wenn die geringste Veranlassung wäre den Sammelplatz Aulis zu erwähnen! "Thov slow (193) und Tooíŋy dé (187) wollten sie in jedem Falle, mochten sie mit den Andern in Aulis zusammen kommen oder nicht. Sonst ist auch Achill nicht erst nach Aulis gegangen (58), Agamemnon (y 268) u. s. w., ja überhaupt kein Griechenfürst, denn α 210 heifst es: πρίν γε τὸν ἐς Τροίην αναβήμεναι, ἔνθα καὶ ἄλλοι | Αργείων οἳ ἄριστοι ἔβαν κοίλῃς ἐνὶ νηυσί und β 172: ὅτε Ἴλιον εἰσανέβαινον Ἀργεῖοι.

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Nicht richtig ist es, wenn S. 88 behauptet wird, die durch die Ausrüstung des Patroklos mit Achills Waffen bezweckte Wirkung bleibe aus. Denn dafs es V. 278 heifst os sidovto Mεvoitíov äλxipov viov, ist doch gar kein Beweis. Die Troer sind nur nicht aufser Zweifel, Μενοιτίου ἄλκιμον ob der neu erschienene Kämpfer Achill sei. Sarpedon sagt 423 er wolle doch sehen, wer er sei. Glaukos dagegen 543 weifs, dafs es Patroklos ist. Viel wunderbarer, als dafs auf troischer Seite nicht viel von der Persönlichkeit des neuen Feindes gesprochen wird, ist das võllige Unterbleiben irgend welcher Äufserung von Freude und Genugthuung über das Eingreifen der frischen Kräfte auf Seiten der Achäer. S. 89 vermehrt N. noch den Wirrwarr, der in unserer Ilias über die dem Patroklos abgenommene Waffenrüstung herrscht, indem er Hektor P 231 mit den Worten ἥμισυ τῷ (nicht τῶν!) ἐνάρων ἀποδάσσομαι demjenigen die Hälfte dieser Rüstung versprechen läfst, welcher dem Aias die Leiche entreifse. Worin die Hälfte einer Rüstung besteht und was deren Besitz für einen Nutzen gewähren soll, mögen die Götter wissen. Aber in der Paraphrase bei Bekker ist vάowv mit λaqúowv erklärt, und Eustathios sagt ganz richtig: οἷα καὶ ὅσα ἔναρα πορισθήσονται ἀπὸ τῶν ὑπὲρ Πατρόκλου πεσουμένων, wenn er auch freilich verkehrter Weise sich für das Andere zu erklären scheint. Auch S. 98 vergrössert er Schwierigkeiten durch falsche Auffassung. Meriones kommt in N zum Zelte des Idomeneus, sich einen Speer zu holen, nicht als wisse er von der Anwesenheit des Fürsten, was nicht sein kann, sondern weil das seinige zu weit entfernt ist (268), und er aus jenem des Idomeneus jederzeit Waffen entnehmen kann. Dafs Apollo dem Hektor bis zum letzten Augenblick zur Seite bleibt, ehe sein Schicksal durch die Psychostasie besiegelt ist, findet N. (S. 103) ungehörig und verwirft deshalb X 213 ᾤχετο δ' εἰς Αίδαο, λίπεν δέ ἑ Φοῖβος Απόλλων, noch mit der Begründung, man könne von einem Lebenden nicht sagen yɛto ɛiç Aídao. Aber Hektor ist ja gar nicht Subiect von ᾤχετο, sondern Ἕκτορος αἴσιμον ήμαρ in der Wagschaale (V. 212). — Wie in aller Welt kommt er dazu (S. 110 Anm. 3), μevéάive II 491 mit 'er stöhnte' zu übersetzen? ZτεIVÓμεvos μεvéave heifst: er war in heftiger Bewegung, er zuckte und äufserte seinen Schmerz in augenfälliger Weise, zornig, leidenschaftlich. So heifst auch díxy 542 nicht mit Recht' (S. 59), was gar nicht pafst, sondern wie Eustathios wiedergiebt, dixavizos nach Rechtsverfahren, förmlich nach Art eines Prozesses vor Gericht, suo iure nitens. So auch Odysseus nicht der

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Dulder' (S. 193) Aristarch ist immer noch recht unbekannt, μόγησαν nicht sie erduldeten' (141). Poéves für 'Odem oder Leben' (S. 110) hat nichts Befremdendes; ovx evi qoéves!

Last not least. Die Sprache der homerischen Gedichte (S. 23) soll ein Haupthindernis der Liedertheorie sein). Jedenfalls dann auch für Niese, der selber behauptet, dafs sein Standpunkt sich theoretisch sehr wenig von Lachmann unterscheide. Aber davon abgesehen scheint mir doch sehr paradox, was er hierüber sagt. Einerseits sagt er selbst ausdrücklich (S. 26), die Gedichte seien nicht in der ursprünglichen Form überliefert, sondern in einer gewordenen, fixiert in einer Zeit, die weit hinter der Entstehung der Gedichte liegt. Wie soll man den nun dem gegenüber 'sehen' (24), dafs die überlieferte Sprache ihnen von Anfang eigen' ist? Was ihnen von Anfang anhaftet, bildet gerade nicht das Charakteristische an der Sprache, sondern von Anfang haftet ihr nur das Allgemeine, Dialektlose an. Sie bildet keine erstarrte Einheit, zeigt vielmehr die deutlichsten Spuren eines keineswegs abgeschlossenen Prozesses, dessen Ausgangspunkt feststellen und den ganzen Homer nach einem solchen erträumten Prinzipe ummodeln zu wollen die vermessenste und widersinnigste Willkür ist. Die homerische Sprache ist nicht 'willkürlich gebildet' (24), sondern mit den Gedichten selbst gewachsen. Ihre Erscheinungen gehören verschiedenen Dialekten an, weil die homerische Poesie bei verschiedenen Stämmen geübt Zu erlernen brauchte man sie nicht, denn sie hat keine starren Regeln und nichts, was den Sängern aus jenen Stämmen fremd gewesen wäre.

war.

Wenn man sagt, sie sei eine Kunstsprache und im Volke niemals gesprochen, so kann das doch nicht heifsen sollen, dafs sie Einzelheiten abgerechnet, die ein Dichter auf eigene Hand gewagt haben mag Sachen enthalte, die nicht zu irgend einer Zeit in irgend einem Teile Griechenlands entweder selbst oder, was die Formen betrifft, in Analogien gesprochen wären, sondern nur, dafs die Totalität derselben, wie sie uns vorliegt, niemals irgendwo als Volkssprache existierte. Etwas Konventionelles, was auf Verabredung beruhte, ist sie darum noch nicht. Die Dichter lernten sie nicht anders, als durch Reception der vorgefundenen Lieder, und jeder neue Dichter war seinerseits Weiterbilder und Schöpfer dieser Sprache. In einer Schule brauchte das nicht zu geschehen. Das wäre eine merkwürdige Jéois gewesen. Publikum hätte in corpore diese Schule auch besuchen müssen, denn wer konnte denn sonst diese Poesie verstehen?

8) Der Beweis aus der Dolonee (24 f.), dafs aus der Liedertheorie die Fehler der Komposition sich nicht erklären liefsen, ist wohl schwerlich gelungen. Die Dolonee setzt unsere Ilias keineswegs voraus, sondern nur eine Situation des troianischen Krieges, in welcher die Achäer sehr im Nachteil waren, und die Befestigung des Lagers mit Wall und Graben. Warum auf Grund solcher Tradition (mag doch sonst in der Ilias stehen, was da will) dieses Lied nicht hätte entstehen können, ist nicht einzusehen.

Druck von W. Pormetter in Berlin.

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