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ihm macht; er wird aber sofort ein Reklameheld und realistisches Ungeheuer, sobald er nach Berlin kommt und mit Journalisten, Theateragenten und Sängerinnen Brüderschaft trinkt. Dieses böse Berlin bekommt es tüchtig! Es ist die bête noire aller unaufgeführten Provinzgenies, es hat die gute, alte deutsche Tugend von der Bühne verjagt und das fatale Teufelsding, Talent genannt, an seine Stelle gesetzt. Das ist allerdings kein Milieu für componirende Kleinbürger, die in einer stark decolletirten Sängerin sogleich Astarte, Beltis und Valantinne in einer Person erblicken. Es ist gut, dass Cäsar Stephani, das neue Genie des Herrn Henzen, dem sündigen Berlin den Rücken wendet und zu seiner ländlichen Abgeschiedenheit, seinem Gänseliesel und seiner Kohlsuppe zurückkehrt. Dort kann er es noch zum Dirigenten des Gesangvereins und einer durchaus angesehenen Stellung unter seinen Mitbürgern bringen.

"Das eigene Blut" von Fedor von Zobeltitz, Schauspiel in vier Aufzügen, gehört zu jener Gattung von Theaterstücken, die in England etwa durch Arthur Henry Jones repräsentirt wird. Es mischt sich litterarisches Bestreben mit effektvoller Theatermache. Bei uns hat ein halbes Jahrzehnt lang der Naturalismus das Leitmotiv für die junge Bühnenproduktion abgegeben; er hat selbst diejenigen Schriftsteller beeinflusst, die ihm eine feindliche Miene entgegensetzten. Natürlicher Dialog und realistische Bühnenbilder werden überall angestrebt, wo ein, wenn auch noch so schwaches litterarisches Bewusstsein herrscht; und wenn diese Aeusserlichkeiten auch nichts zu tun haben mit der Seele der modernen deutschen realistischen Dichtung, so haben sie doch den Stil im Sinne einer künstlerischen Höherbildung beeinflusst. Fedor von Zobeltitz ist weit davon entfernt, ein realistischer Dichter im Sinne der jungen deutschen Schule zu sein; und dennoch, vergleicht man die Sprache seiner Bauern, die in seinem neuen Schauspiel auftreten, mit der abstrakten, abgeschliffenen Ausdrucksweise, die die vorige Generation ihren Bauern andichtete, so bemerkt man den Stilfortschritt, den die Zeit gebracht hat; und sieht man, wie Zobeltitz eine bäuerliche Gemeindevertretung schildert, so bemerkt man, um wie viel schärfer die Beobachtung

der Wirklichkeit geworden ist, die in den neueren deutschen Schauspielen erscheint. In diesem Bemühen, einen natürlichen Dialog zu schreiben und realistische Bühnenbilder zu entwerfen, besteht der litterarische Anstrich des Zobeltitzschen Stückes. Er ist freilich dünn, und es gibt grosse Lücken, durch die das grobe Gefüge des theatralischen Baues guckt. Dieser Bau selbst besteht in einer verwickelten Familiengeschichte, aus Materialien zurecht gezimmert, die in Kalendergeschichten üblich sind. Es war einmal ein reicher Bauer, der hatte eine Frau und zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Als seine Frau das dritte Kind, ein Mädchen, zur Welt brachte, drohte sie zu sterben. Das dritte Kind war tot geboren; der Bauer verheimlichte aber diese Tatsache seiner Frau, weil er fürchtete, ihr Zustand würde sich verschlimmern, wenn sie davon erführe. Zur selben Zeit geschah es, dass eine Landstreicherin die "schwarze Jette," mit einem Mägdlein niederkam, das sie von einem unbekannten Vater empfangen hatte. Der Bauer vertauschte nun das lebende Kind der Landstreicherin gegen sein eigenes totes und legte es seiner Frau in den Arm. Leider nützte dieser fromme Betrug nichts, die Frau starb, aber sie starb doch mit einem "selig lächelnden Antlitz, das zum Himmel blickte." Trotzdem das Landstreicherkind seine geliebte Frau nicht gerettet hatte, behielt der Bauer es doch; ja er machte aller Welt weis, dass es sein eigenes Kind sei, er betrog selbst die Behörden, und nur ein verbummelter, dem Trunk ergebener Musikant, der bei der Auswechslung der Kinder geholfen hatte, wusste die Wahrheit. Jahre vergehen, die Kinder wachsen heran, der Bauer wird immer reicher, er gewinnt in einem hartnäckig geführten Prozess einen Wald, auf den das Dorf Anspruch gemacht hatte, wodurch er der reichste, aber auch der bestgehasste Mann seiner Gemeinde wird. Die Freude seines Herzens ist das angenommene Kind, das Kind der Landstreicherin, das sich zu einem Engel an Güte und einem Muster von Tüchtigkeit herausbildet, während seine beiden echten Kinder, sein "eigenes Blut," leichtsinnig, hoffärtig und bösartig werden. Die Tochter, die sich dem Schulmeister verlobt hatte, lässt sich in der nächsten Garnisonstadt von einem Unteroffizier betören, gibt ihrem braven Schulmeister den Laufpass und verlässt das väterliche Haus.

Der Sohn wird ein Spieler und Trinker. Trotzdem übergibt ihm der Bauer das Gut, zahlt jeder seiner Töchter ihr Pflichtteil in Höhe von 10,000 Thalern aus und zieht sich ins Leibgedinge zurück. In kurzer Zeit hat der Sohn Haus und Hof vertan; um sich zu retten, heischt er von den Schwestern ihr Pflichtteil als Darlehen: die ältere, die rechte Schwester, weist das Verlangen höhnisch ab; die jüngere ist bereit, ihm ihr Geld zu geben, doch ist sie noch minorenn, und der Bauer als ihr Vormund verweigert seinem Sohn das Geld, da er weiss, es würde vergebens seinem Leichtsinn geopfert sein. Jetzt will es ein Zufall, dass der verbummelte Musikant, der vor 18 Jahren bei der Kindesunterschiebung geholfen hatte, sein Geheimnis verrät; die beiden bösen Kinder des Bauern erfahren, dass das gute Fränzchen gar nicht ihr Schwesterchen sei, und nun fordern sie die 10,000 Thaler als das Erbteil ihrer Mutter ein, die der Bauer Fränzchen zuerteilt hatte; ja, der Sohn geht in seiner Ruchlosigkeit so weit, den Vater zu beschuldigen, er habe sich in Fränzchen eine Maîtresse gross gezogen. Das Ende vom Liede ist, dass der Bauer nach einigem pathetischen Sperren die 10,000 Thaler herausgeben muss und dass Fränzchen durch die Hand des braven Dorfschulmeisters entschädigt wird, der von der bösen Tochter des Bauern sitzen gelassen worden war.

Wie man sieht, eine grobe Geschichte ohne Psychologie und seelischen Reiz, Charaktere wie mit der Axt gehauen, Schicksale ohne Wahrscheinlichkeit noch Spannung. Trotz alledem ist das Schauspiel unter den drei Augustkomödien das einzige, das einen Schriftsteller zum Verfasser hat.

Wenn diese Zeilen dem Leser vor Augen kommen, hat die Berliner Theatersaison eben erst begonnen. In meinem heutigen Referat konnte ich nur der ersten leichten Vorpostengefechte gedenken, und das geringe Resultat, das sie ergeben haben, könnte zu der Annahme verleiten, dass unser Theaterleben stagnire. Dieser Annahme möchte ich schon jetzt vorbeugen; im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob der kommende Winter wieder eine anschwellende Welle des dramatischen Lebens bringen wollte. Von unseren kraftvollsten und erfolgreichsten Autoren sind neue Stücke angekündigt,

Sudermann, Hauptmann, Halbe, Fulda, Wolzogen treten auf den Plan, und auch des alten Nordlandriesen neuestes Werk, den wir längst als einen der unsrigen, als den Geisterführer im Kampf um Kunst, betrachten gelernt haben, auch Ibsens jüngstes, eben vollendetes Drama wird seine erste Aufführung. in Berlin in deutscher Sprache erleben.

OTTO NEUMANN-HOFER.

POLITISCHES

IN DEUTSCHER BELEUCHTUNG.

DER

ORIENT.

DER Kaiser von Russland befindet sich auf einer Rundreise durch Europa, und wo er erscheint, ertönen in offiziellen Toasten und in offiziösen Aeusserungen die lieblichsten Worte von Frieden und Freundschaft und von der hehren Aufgabe der europäischen Völkerfamilie für die Kultur, von ihrer Pflicht, nur in den edlen Werken des civilisatorischen Fortschrittes mit einander zu wetteifern.

Gleichzeitig spielen sich in der Türkei so barbarische Vorgänge ab, dass sie jede gesunde menschliche Empfindung in Empörung bringen müssen, und die politische Seite dieser Ereignisse ist überdies so bedrohlich, dass die Welt ernst in die Zukunft blickt.

Europäische Völkerverbrüderung hier in Toasten, und europäische Völkerrivalität und europäische Völkerzerrissenheit dort in der türkischen Wirklichkeit. Die Mission der Civilisation in Worten und das Gewährenlassen der Barberei in Taten -diese kreischende Dissonanz zeigt sich heute der Welt. Die Ereignisse, die zu solchen Betrachtungen anregen, sind und das hebt sie zu ganz besonderer Bedeutung empor-die Verkörperung eines der interessantesten Probleme unserer Zeit.

Die humane Empfindung ist, glaube ich, nie stärker gewesen als in unseren Tagen. Wir haben ein ausserordentlich lebhaftes Mitgefühl mit den Leiden unserer Mitmenschen, und die freie Woltätigkeit und die freien humanitären Veranstaltungen haben einen Umfang angenommen wie niemals zuvor, wie niemals im Altertum und niemals im Mittelalter.

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